Vollkommen unbemerkt hat sich seit 10 Jahren in meiner unmittelbaren Umgebung eine betreute Wohnanlage in der ehemaligen Elise-Averdieck-Schule einquartiert. Nun war es erstmals möglich zum Tag der offenen Tür dieses nun „Lebensbaum” genannte Haus mit seinen Bewohnern zu besuchen. Die Familien eint ein gemeinsames Schicksal, das mit einer Massenkarambolage in Altenwerder nahe bei Hamburg vor 20 Jahren begann. Alle beteiligten Frauen gebaren 9 Monate danach Kinder. Besondere Kinder. Auf das „besonders” wird hierbei sehr viel Wert gelegt – von „behindert” sollte man nämlich nicht sprechen. Diese Kinder haben nicht nur alle schwarze Augen (sprich eine schwarze Iris), sondern sind besonders begabt. Sie wissen mehr als wir alle. Es wird 7 Tage einen Sturm geben und dann sind es noch 7 Jahre, bevor die Welt untergeht. Aber diese Schwarzäugigen wissen, was in Zeiten der Apokalypse zu tun ist, auch wenn sie in den Augen mancher nicht zurechnungsfähig erscheinen. Diagnostiziert wurde von Psychiater Dr. Marius Mittag das „Teiresias-Syndrom” (benannt nach dem blinden Propheten in der griechischen Mythologie), das allerdings noch nach wie vor ziemlich unerforscht ist. Der Kontakt zu den Familien ermöglicht nun einen Einblick in diese sonderbare Welt und auch in ein meist sehr desolates soziales Umfeld. Ziemlich heruntergekommen sind die Wohnverhältnisse – analog zu ihren Bewohnern, denn das „Teiresias-Syndrom” greift mehr oder weniger auf alle Familienmitglieder über – Alkoholprobleme sind bei den Eltern weit verbreitet, ebenso wie ausgewachsene Depressionen. Man selbst schaut sich das bei so einem Tag der offenen Tür nicht nur einfach an, sondern ist mittendrin. Man wird beschnuppert und angefasst, nimmt an Gesprächstherapien teil oder an Bewegungsübungen. Das ist indes noch nicht alles – man lernt die Bewohner nicht nur im Gespräch kennen, manchmal brauchen sie auch handfeste Unterstützung – beispielsweise bei einem Gang zur Toilette. So viel Pflegepersonal gibt es nämlich nicht – die Einsparungen im Gesundheitsbereich sind auch hier deutlich spürbar.

Bei der Familie Traub finden sich nicht nur in der Wohnung zahlreiche Puppen – diese sind auch schon im Treppenhaus anzutreffen.

Die Quintessenz, von dem, was die Schwarzäugigen wissen, wurde in einer Aufführung vermittelt, die den Abschluss am Abend eines Besuches bildete. Aber all das ist „nur” Theater. Die Gruppe von Signa schafft es jedoch mühelos, dass Realität und Imagination in ihrem Stück Schwarze Augen, Maria eine vollkommen eigene Welt bilden. Und es war eine sehr schlechte Entscheidung, in diese Welt erst am letzten Tag einzutauchen (und das auch nur mit sehr viel Glück). Ein mehrmaliger Besuch vom Haus Lebensbaum wäre eigentlich unbedingt notwendig gewesen. Aber immerhin weiß ich nun, dass ich mitunter 80 Planeten mit mir rumtrage und man die nicht um die Null kürzen kann, weil die Ösen meiner Docs-Stiefel verbunden sind. Schnürsenkel sind wichtiger als man denkt. Und ja, ich weiß nun auch ganz genau, was ich nach dem 7-tägigen Sturm mache. Ich hoffe, Sie wissen das auch, denn die Zeit ist nah, dass es 10 Schwarzäugige geben wird und dann wird der Sturm kommen. Jetzt wissen Sie eigentlich Bescheid und sagen Sie nicht, dass Sie es vorher nicht gewusst hätten. Notfalls kotzen Sie einfach ein paar Kekse aus und murmeln dabei Ihren zweiten Vornamen. Egal, ob Sie einen anderen oder keinen haben – richtig ist jedenfalls „Maria”.