„Samstagabend Irrenanstalt, der KGB im deutschen Wald”

Es kann gut sein, dass es ein Samstagabend war. Im Wald war es zwar nicht, aber immerhin am Stadtrand. Vor sechzehn Jahren – fast auf den Tag genau. Damals, zu den wilden Wendezeiten, kurz nach dem Mauerfall, als alles möglich schien. Es herrschte eine nie wieder so erlebte Aufbruchstimmung vor, es waren nicht nur die Grenzen des Landes, die sich geöffnet hatten, sondern jegliche Grenzen, die es gab.

An einem dieser revolutionären Abende begab ich mich in Begleitung meiner Mutter – das ist ganz wichtig für diese Geschichte, sonst hätte ich sie wohl nicht erlebt – in eine Gaststätte (Nennt irgendjemand außerhalb der Ex-DDR eigentlich Restaurants so? Dort ist dieser Begriff immer noch üblich). Noch gab es den typischen DDR-Service, es konnte sich also nur um Stunden handeln, ehe man bedient wurde. Das fiel uns aber bald gar nicht mehr auf, da wir schnell in ein Gespräch verwickelt wurden.

Es fing mit einer kleinen Bitte an: Ob ich nicht ein kurzes Telefonat führen könnte, es sei sehr wichtig, und man selbst (ein schon etwas älterer unscheinbarer Herr) könne dies nicht tun, da man eigentlich schon woanders sein müsste. Sehr krude das Ganze, aber da höflich gefragt wurde, kam ich dieser Bitte nach. Es handelte sich nur um einen Satz, den ich leider vergessen habe (ts, ts, wird sich der Leser fragen – wie kann man denn diesen Satz vergessen? Man kann). Am anderen Ende der Leitung wurde dieser nach anfänglicher Verwunderung kommentarlos entgegengenommen. Anschließend wurde dieser Vorgang doch noch erläutert. Der Mann gab sich als KGB-Agent zu erkennen. Kurz wurde der Ausweis gezeigt. Zu schnell, um ihn genau zu prüfen, aber beim Rausholen langsam genug, um das bestückte Pistolenhalfter unter dem Jackett zu sehen. Er hatte den Auftrag, Alexander Schalck-Golodkowski zu fassen, dessen Spur er auch schon aufgenommen hatte. Und eigentlich müsste er schon längst im Flieger (Flieger hat man damals in der DDR natürlich nicht gesagt) in den Libanon sitzen, aber ihm wäre noch etwas dazwischen gekommen. Dorthin sei nämlich Schalck-Golodkowski geflohen, vertraute er uns unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Ich fragte mich die ganze Zeit, warum er uns das alles erzählt und hatte auch meine Zweifel, aber es war andererseits zu abstrus, als das es nicht stimmen könnte.

Es wurde allerdings noch abstruser. Man unterhielt sich außerdem noch über die aktuellen Ereignisse. Ein sehr ergiebiger Gesprächsstoff, es passierte zu dieser Zeit ja andauernd etwas. Dabei stellte sich heraus, dass unser KGB-Agent zu allen prominenten Köpfen der Wendezeit brieflichen Kontakt hatte. Da er ja nun doch erst am nächsten Tag den Schalck-Golodkowski weiter jagen würde, bot er uns an, doch noch mit in seine Wohnung zu kommen, er würde uns gerne aus dem umfangreichen Briefwechsel vorlesen. Nach wie vor war ich recht skeptisch und wäre meine Mutter nicht dabei gewesen, hätte ich nie die Wohnung eines KGB-Agenten betreten, da ich bei diesem Vorschlag eher andere Absichten vermutet hätte. Aber so sah ich dann doch sehr erstaunt einen ganzen Schrank mit Aktenordnern voll, in denen sich die Korrespondenz befand. Das, was ich zu lesen bekam, wirkte sehr überzeugend. Sowohl Duktus als auch Inhalt ließen sich den jeweiligen Persönlichkeiten zuordnen, soweit ich dieses beurteilen konnte.

Am nächsten Tag wurde Schalck-Golodkowski verhaftet. Nicht im Libanon. Am Tag darauf fand ich einen Brief im Briefkasten, ohne Briefmarke. An mich adressiert, vom KGB-Agenten. Er lud mich zu sich ein, nun hätte er ja wieder Zeit, da Schalck-Golodkowski gefasst worden war und ich müsse diese Einladung ja nicht gegenüber meiner Mutter erwähnen … Selbstredend ging ich nicht hin. Trotzdem beschäftige mich diese Begebenheit noch länger. Es kamen die Tage, in denen Bombendrohungen zum neuen Volkssport wurden; nie wurde eine Bombe gefunden – es waren aber sehr viele Schulen darunter. Die erste Bombendrohung betrachtete man allerdings als etwas sehr Außergewöhnliches. Sie galt der hiesigen Druckerei. Meine Mutter erfuhr dann zufällig, dass im Zusammenhang mit dieser ersten Bombendrohung unser KGB-Agent gesucht wurde. Es dauerte noch einige Zeit bis herauskam, dass er schon sehr lange in psychiatrischer Behandlung war.