Gestern Abend habe ich mir meine Gute-Nacht-Geschichte von einem meiner Lieblingsautoren, was die deutsche Gegenwartsliteratur betrifft, vorlesen lassen. Helmut Krausser rückte sich den Stuhl zurecht, öffnete seine Tasche und entnahm ihr eine Mappe mit einem Papierstoß. Und dann begann er mir vorzulesen. Genau genommen waren es keine Geschichten, sondern Gedichte. Und diese las er nicht nur mir, sondern ein paar mehr Leuten vor. Denn bei der gestrigen Lesung im Macht-Club war es schon etwas voller. Aber für das Anhören dieser Zeilen verzichtete ich gerne auf häusliche Annehmlichkeiten
(ja, ich war dort sogar offline).

Sonett an die schreibfaule Brieffreundin*

Zu deinen Gunsten nehm ich an, du seist
gestorben. Liefest dunkle Herbstalleen
vereinsamt auf und ab. Du süßer Geist.
Und wüßtest nicht, es wäre Zeit. Zu gehen.
Suchtest Lichter. Abschiedsworte,
Musik für menschenleere Straßen,
für einst bedeutungsvolle Orte,
die dich kannten. Und vergaßen.
Schriebest Briefe in den Wind.
Schreie, halb gehauchte Zeilen, die
nicht länger zuzustellen sind.
So stell ich es mir vor. Dein Schweigen ließe
sonst Schlimmeres befürchten. Hieße,
du lebtest. Irgendwo. Und irgendwie.

aus „Strom“.

*Dieses Gedicht wurde rein zufällig ausgewählt und es ist niemand damit persönlich gemeint. *g*